Fuldaer Informationsdienst für angewandte Gesundheitswissenschaften und klinische Praxis

Erkennen von Red Flags an der Halswirbelsäule

[erstellt 15/Jun/2008] [aktualisiert 16/Mrz/2010]

Frage

Mit welchen Screening-Instrumenten (bspw. Fragebogen) können Red Flags bei physiotherapeutischen Maßnahmen an der Halswirbelsäule (insbesondere bei Neoplasien) ausgeschlossen werden?

Hintergrund

Red Flags sind klinische Zeichen oder anamnestische Hinweise, die auf das Vorliegen schwerwiegender Erkrankungen hindeuten können. Bei Vorliegen eines solchen Zeichens und/oder Hinweises ist eine weiterführende ärztliche Diagnostik und ggf. Therapie erforderlich.

Antwort

Red Flags können a) nach den potentiell zugrunde liegenden Krankheitsarten oder b) nach Dringlichkeit klassifiziert werden.

a) Differenzierung nach Krankheitsarten

Die für den einfachen Nackenschmerz wichtigsten Red Flags sind folgende [1; 2]:

  1. Hinweise auf bösartige Neubildungen, Infektionen oder Entzündungen:
    • Fieber,
    • unerklärlicher Gewichtsverlust,
    • anamnestischer Hinweis auf entzündliche Arthritiden,
    • anamnestischer Hinweis auf bösartige Neubildungen, i.v. Drogenmissbrauch, AIDS oder andere Infektionen,
    • Immunsuppression,
    • stärker werdender, ununterbrochener Schmerz, ggf. schmerzbedingte Schlafstörungen,
    • Lymphadenopathie.
  2. Hinweise auf eine Beteiligung (Kompression) des Rückenmarks:
    • insidiöse Ausbreitung,
    • Gangstörungen; Schwäche oder verminderte motorische Kontrolle der Hände; Verlust der Sexual-, Blasen- oder Darmfunktion,
    • Lhermitte-Zeichen (auch Nackenbeugezeichen: Parästhesien in Armen und Rücken bei starker Beugung des Kopfes nach vorn),
    • Zeichen des oberen Motoneurons in den unteren Gliedmaßen (Babinski-Zeichen, Hyperreflexie, Klonus, Spastizität),
    • Zeichen des unteren Motoneurons in den oberen Gliedmaßen (Atrophie, Hyporeflexie).
  3. Hinweise auf ein schwerwiegendes Trauma und/oder knöcherne Verletzungen:
    • anamnestische Hinweise auf ein Trauma (Höhensturz, Verkehrsunfall),
    • früherer operativer Eingriff im Bereich der Nackenpartie,
    • Osteoporose,
    • zunehmender oder ununterbrochener Schmerz.
  4. Hinweise auf eine Gefäßinsuffizienz:
    • Schwindel und Blackouts (ggf. Beteiligung der Vertebralarterien) bei Kopfbewegungen, insbesondere bei aufwärtsgerichtetem Blick,
    • Schwindel und Fallneigung.

b) Differenzierung nach Dringlichkeit

Sizer et al. differenzieren Red Flags für die Halswirbelsäulenregion nach Dringlichkeit in drei Kategorien, jedoch mit Fokus auf medizinische Settings [3]:

Red Flags, die eine unmittelbare medizinische Diagnostik und Therapie erforderlich machen:
Patienten mit Verdacht auf Kopf- oder Halswirbelsäulenverletzungen (umfasst auch Fälle von Patienten mit Bewusstseinseintrübungen oder verändertem Mentalstatus) sollten auf neurologische Defizite, knöcherne Wirbelsäulenverletzungen, Dislokationen sowie Laxizitäten untersucht werden. Als klinische Entscheidungshilfen empfehlen die Autoren die Anwendung zweier Screening-Instrumente: die Canadian C-Spine Rules (CCR) und die Kriterien der National Emergency X-Radiography Utilization Group (NEXUS) [für einen direkten Vergleich beider Instrumente siehe 4].
Red Flags, die eine erhöhte Aufmerksamkeit (weitergehende Befragung des Patienten) und vorsorgliche medizinische Untersuchung und Therapie erfordern:
Instabilitäten der oberen Halswirbelsäule (v.a. atlanto-axiale Laxizitäten und Dislokationen), kongenitale oder hereditäre Erkrankungen (wie z.B. Knochendysplasien), vertebrobasiläre Insuffizienz (Leitsymptom: Vertigo). Durch eine sorgfältige Anamnese müssen alle Ereignisse wie Stürze, Nackentraumata sowie Kopfverletzungen erhoben werden. Zur Feststellung von Laxizitäten bzw. Instabilitäten in der atlanto-axialen Region empfehlen die Autoren die Testung der Laxizität mit therapeutischer Lokalanästhesie (TLA), den Sharp-Purser Test und die übliche klinische Diagnostik. Bei der Anamneseerhebung muss auf Nackenschmerz, Bewegungseinschränkungen, Torticollis, Übelkeit, Schwindel sowie Symptome wie Kopfschmerz, Müdigkeit und Parästhesien geachtet werden.
Red Flags, die weitergehende Diagnostik und eine differenzierte Analyse erfordern:
Radikulopathien und Myelopathien. Radikulopathien können u.a. durch den Spurling-Test und die übliche klinische Diagnostik identifiziert werden. Myelopathien können u.a. mit Taubheit und Schwäche der Hände, diffusem Schwächegefühl, gestörter Sensibilität (Hinweis auf Lokalisation C3-C5) sowie Gefühlen von Steifheit und Schwäche, gestörter Propriozeption, Spastizität und/oder Gangstörungen einhergehen (unterer Halswirbelsäulenbereich). Das Lhermitte-Zeichen (Parästhesien in Armen und Rücken bei starker Beugung des Kopfes nach vorn) kann u.a. als Hinweis auf vorhandene Tumore interpretiert werden, ein positiver Scapulohumeraler-Reflex (Shimizu) Test erlaubt die Identifikation von Dysfunktionen der oberen Halswirbelsäule.

Bei der Recherche nach Screening-Instrumenten konnte keines gefunden werden, das auf die Identifikation oder den Ausschluss von Red Flags mittels Fragebogen bzw. Selbstangaben durch die Patienten oder den Patienten abzielt. Moffett und McLean verweisen auf die verantwortliche Stellung der Physiotherapeuten – auch bezogen auf das Erkennen von Red Flags – im Behandlungsverlauf von Rücken- und Nackenschmerz [2]. Die Autoren raten bei der Anamneseerhebung zu erhöhter Aufmerksamkeit gegenüber den Patientenangaben nicht nur hinsichtlich von Schmerz und dessen Lokalisation, sondern auch gegenüber Angaben zu den sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Alltag des Patienten und dessen Umgang mit der Situation.

Durchgängig wird in der einschlägigen Literatur [2-6], darunter auch in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) [7], zur Versorgung von Nackenschmerz auf die Wichtigkeit einer sorgfältigen Anamneseerhebung bzw. Erhebung der Patientengeschichte zur Identifikation von Red Flags hingewiesen. Daraus folgt bei der Behandlung von Patienten mit Halswirbelsäulen-/Nackenbeschwerden die Notwendigkeit, gemäß den Regeln der klinischen Gesprächsführung zur Anamneseerhebung Angaben zu Red Flags durch gezieltes Fragen gesondert zu erheben.

Zur weiterführenden Lektüre sei an dieser Stelle auf das Buch von Greenhalgh und Selfe aus dem Jahr 2006 hingewiesen [8]. In „A Guide to Identifying Serious Pathology of the Spine“ geben die Autoren Hinweise zur Identifikation sowie klinischen Relevanz von Red Flags und ihrer Bedeutung für Diagnostik und Therapie der Wirbelsäule.

Literatur

  1. Clinical Knowledge Summaries (CKS): What are the red flags for non-specific neck pain? Institution: National Institute for Health and Clinical Excellence, 2009. Abrufbar unter: http://www.cks.nhs.uk/neck_pain_non_specific/management/quick_answers/scenario_neck_pain_non_specific/red_flags (Zugriff: 16.03.2010).
  2. Moffett J.; McLean S.: The role of physiotherapy in the management of non-specific back pain and neck pain. Rheumatology 2006, 45 (4): 371-378.
  3. Sizer P.S. Jr.; Brismee J.M.; Cook C.: Medical screening for red flags in the diagnosis and management of musculoskeletal spine pain. Pain Practice 2007, 7 (1): 53-71.
  4. Stiell I.G.; Clement C.M.; McKnight R.D.; Brison R.; Schull M.J.; Rowe B.H.; Worthington J.R.; Eisenhauer M.A.; Cass D.; Greenberg G.; MacPhail I.; Dreyer J.; Lee J.S.; Bandiera G.; Reardon M.; Holroyd B.; Lesiuk H.; Wells G.A.: The Canadian C-spine rule versus the NEXUS low-risk criteria in patients with trauma. New England Journal of Medicine 2003, 349 (26): 2510-2518.
  5. Douglass A.B.; Bope E.T.: Evaluation and treatment of posterior neck pain in family practice. Journal of the American Board of Family Practice 2004, 17 (Nov-Dec): S13-22.
  6. Greene G.: Red Flags: essential factors in recognizing serious spinal pathology. Manual Therapy 2001, 6 (4): 253-255.
  7. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM): DEGAM-Leitlinie Nr. 13: Nackenschmerzen. Stand Juni 2009. Düsseldorf 2009. Abrufbar unter: http://leitlinien.degam.de/uploads/media/LL-13_Langfassung_Netz.pdf (Zugriff: 16.03.2010).
  8. Greenhalgh S.; Selfe J.: A Guide To Identifying Serious Pathology of the Spine. Elsevier: Churchill Livingstone, Amsterdam, New York 2006.

Suchanfrage in Datenbanken/Informationsquellen

EMBASE/MEDLINE, Physiotherapy Evidence Database (PEDro), Centre for Evidence-based Physiotherapy (CEBP), Internetrecherchen

Verwendete Suchbegriffe

red flags, clinical feature, cervical spine, neck, screening instrument

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